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"Ich an deiner Stelle, ich hätte mich auch wiedererkannt.” Lamme legte das Buch der Bücher ausgelesen auf den für drei gedeckten Abendbrottisch und schraubte die Flasche mit dem Versöhnungs-Wodka auf. Er konnte nicht länger so tun, als sei Nele ein unsichtbares oder gar geschlechtsloses Heinzelmännchen, und sein Schweigen half ihm vor dem Scheidungsrichter wahrscheinlich auch nicht. “Und bis zur letzten Seite habe ich gehofft, daß du und ich wenigstens einmal...” Nele, die auf sein erstes Wort hin sofort aufgesprungen war, ließ die zweite Bockwurst wieder in den Topf rutschen und sah Lamme prüfend an. “Es ist auch ein Roman”, sagte Nele, “nur beinahe das Leben. Und wenn es sein muß, stehe ich schon dazu, zur Verfügung. Denke ich...” Sie sah in den Topf und tauchte mit der Gabel auch die Daumenkuppe in das heiße Wasser. “Laß es das Buch der Bücher sein”, seufzte Lamme. “Dann komme ich wieder mit Ines zusammen.” Er seufzte auch, weil er gegen den Bockwurst-Geschmack Bier trinken mußte und den Biergeschmack nur mit einem Biß in die Bockwurst bekämpfen konnte. “Und wenn Thyl die Pappwelt verändert, wäre es auch nicht romantisch, sondern mies.” Daß Lammes Augen anders reagierten, lag so sehr an Neles Angebot wie an ihrem weißen Bademäntelchen, so sehr an ihrer Afrika-Haut wie an ihrem Friedhofsgeruch und wie an ihrer phantastischen fixen Idee. “Und einmal ist ja immer noch kein Mal.” Nele nickte wie nach einer Offenbarung, füllte sich das Schnapsglas, kippte, goß nach und kippte. “Und wenn Thyl auch wieder mit mir spricht, wird esvielleicht nie, nicht?” Mit den Augen holte Nele Lammes Erlaubnis zu einem vierten Liebestrank ein, doch während er noch zögerte, winselte Lord Baskerville und begann Nele zu zittern. “Schnell”, flüsterte Nele und quetschte sich zwischen Lammes Stuhl und der Wand hindurch, in ihre Ecke zwischen Tisch und Mauerecke. “Schnell hierher!” Die alten Wasserflecke über dem Herd wurden dunkeler, dann bildeten sie Blasen, aus denen es weiß tropfte, und schließlich regnete es schwarz, sauer und ungehemmt in die ganze Küche ein. “Also das, das verstehe ich nicht”, flüsterte Nele, zähneklappernd und naß. “Hier war ich doch immer sicher.” Nele krallte die Finger um Lord Baskervilles Halsband, bog die Schultern, um besser in die Mauerecke zu passen, und zog die Knie vor die Brust. Lamme hängte ihr die Decke um, mit der er seinen Küchenstuhl gepolstert hatte, griff Wodka-Flasche und Bockwurst und kroch unter die Decke, auf Fell-Kontakt. “Den Senf htte ich mitnehmen müssen, verdammt!” “Nein! Nicht! Sitzenbleiben”, jammerte Nele. “Laß mich doch jetzt nicht allein!” Lamme packte sich den Wurstrest auf die Hand. “Na, soll wenigstens Eure Lordschaft einen schönen Abend haben... Und daß du mich gegen meinen Willen von Ines und den Kindern befreit hast, na gut! Daß wir hier wie zwei Panzersoldaten und ein Hund hocken, na schön! Für dieses Sauwetter kannst du ja nichts, aber eine Woche lang Kaufhallen-Brötchen, abgepackten Käse und Bockwürste... Und dann noch ohne Mostrich!” Lamme hätte ihr auch vorhalten können, daß sie nur im Bademantel einregnete, während er seinen Ministeriums-Anzug verdarb, und weitere eigene Benachteiligungen wären ihm wohl noch eingefallen, doch wieder witterte der Lord eine Gefahr. Instinktiv legte Nele die Hände vor das Gesicht, instinktiv machte Lamme ihr das nach, und schon fielen die ersten Hagelkörner, groß wie CC-Eier. Sie kullerten und sprangen über die Tischplatte, und der Senf-Becher bekam einen Volltreffer. Die Spritzer auf den Dielenbrettern hätte Lamme erreichen können, ohne Nele verlassen zu müssen. “Drei Minuten früher”, stöhnte Lamme. “Als wäre das Dach nicht mehr da! Nele ließ die Hände vor dem Gesicht, beugte den Kopf in den Nacken, starrte durch das Gitter der Finger und sah vor lauter lautlos blinkenden Jets den Himmel nicht mehr. Aus dem Fernsehen wußte Nele, daß in einer der Maschinen der wirkliche Herr des Weltuntergangs saß, der flugdiensthabende General, eine Fünfstern-Spinne im elektronischen Netz. Er war auf Licht- und Feuer-Orka- ne eingestellt, doch nun würde er sein Kaviar-Sandwich aufessen und versuchen, aus den überschwemmten Silos die Raketen des letzten Sieges zu starten. Die Präsidentenmaschinen aller Länder flogen auf ihren längst und genau festgelegten Routen, und nicht eine der Exzellenzen befahl eine Abweichung, um ihren ärgsten Erb-, Glaubens- oder Klassenfeind zu rammen. Was für Sekunden so aussah, blieb eine Täuschung, und wie leuchtende Mückenschwärme stiegen die Langstreckenflugzeuge aller Fluggesellschaften aller Länder über dem Horizont auf: ausgebucht von Top-Managern und Kombinats-Parteisekretären, Superstars und Nationalpreisträgern, Puffgroßmüttern und Festumzugsrednern. Die Tragflächen verdunkelten den Himmel für Ewigkeiten. Nur die Positionslichtern blinkten herab. “Da! Sieh mal dahin”, keuchte Lamme und in der Stille klang das wie Donnergrollen. Unter dem Küchentisch kauerte ein kleiner alter Mann in einem feuchten Nachthemd, und als er die Hand unter der Tischplatte hervor schob, erinnerte er an Dustin Hoffmann als hundertzwanzigjähriger Little Big Man. “Kennst du den”, fragte Lamme, weil Dustin Hoffmann ohne Zweifel zu den Davonfliegenden zählte. “Ein Opa aus dem Haus?” “Nein, aber gesehen habe ich ihn schon”, flüsterte Nele und schmiegte sich an ihren begossenen Schafshund. “Der sucht in den Mülltonnen hier herum nach Pfandflaschen, oder?” Ihre Carvalho-Zähne schlugen aufeinander, aber sie bemühte sich um Freundlichkeit in der Stimme. “Können wir Ihnen was anbieten, Herr... Herr...?” “Ja, einfach und nur: HERR”, sagte der alte Mann. Unter seinen alterslangsamen Tränen lächelte er. “Ich hätte nicht vermutet, daß mich noch jemand erkennt. Oder kennen will... Und schon gar nicht, daß das du sein würdest! Ein größres Geschenk konntest du mir in der letzten aller Stunden nicht machen!” “Ach, wie wir gebaut sind”, polterte Lamme laut wie als Armee-EK. Er rutschte und hielt dem Alten die Wodka-Flasche hin. “Das sind Entzugserscheinungen, Mensch, Alter! So’n bißchen Sommerregen ist ja noch nicht die Sintflut!” Der Greis trank einen kurzen Schluck und hustete lange. “Doch, es ist die Sündflut”, sagte er traurig. “Ich muß das schließlich wissen. Und sie läuft wieder schief, entschuldigt bitte! Obwohl ich es doch immer nur gut gemeint habe...”
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