![]() |
||||||||||||||||||||||||||
|
Wie jeden Morgen hoffte Nele auf den Nachmittag, aber in dieser großen Pause verstand sie mit einem Mal, warum es bei den Menschen zwei Geschlechter gab. Irgend jemand aus dem Kollegium rückte ihr mit dem Fuß einen Stuhl vom Kollektivtisch ab, und darauf hatte Nele seit einem halben Jahr gewartet und legte sie nun keinen Wert mehr. Vor dem Regal für die Erich-Honecker-Biographie und die DSF- und GST-Jubiläums-Bildbände saß in einer eigenen hellblauen Qualmwolke und an einer dünnen, aber echten Zigarre eine blonde Igel-Prinzessin. Sie war für Nele unter den Frauen, was unter den Männern Thyl war, und ihre großen grüngrauen Augen begrüßten sie nicht erst. Diese Augen zogen Nele aus und bohrten sie auf, während die breite, geschwungene Oberlippe zwei lustige Kaninchenzähne sehen ließ. „Das ist die Kollegin Loewe, Sophia“, sagte jemand aus dem Stalinisten-Kollegium. „Aus Frankfurt...“ „Aus dem richtigen Frankfurt“, ergänzte Margot Honecker, und es klang verletzend höhnisch. „Loewe“, wiederholte Nele. „Na, das paßt doch prima zu mir...“ Natürlich war dieser Spruch in jeder Hinsicht ein Fehler. Damit schlug Nele die Einladung aus, zu den Verdammten der Vereinigung gezählt zu werden, und Sophia Loewe verriet er er Dinge über Nele, die sie nicht einmal selbst wußte. So tief gedemütigt war die jüngere oppositionelle Kollegin, daß sie mit eigenen rassistischen Witzen um Anerkennung flehte, und zwei Bierabende später wurde Sophia noch deutlicher. Wenn Nele Thyls Sperma zwischen ihren Schoko-Titten einen lustigen Kontrast fand, war sie wirklich das allerletzte: eine Komplizin ihrer Vergewaltiger, die in ihr nichts als eine exotische Sex-Sklavin sahen. „Und ich sehe in dir eine total bescheuerte Wessi-Tussi“, protestierte Nele. „Eine Frau bin ich ja auch, und die einzige Negerin hier bin doch wohl ich!“ Sophias Blick bohrte sich in Neles obersten geschlossenen Hemd-Knopf, durch das Herz und in die Wirbelsäule, und dort schraubte er sich durch das Rückenmark bis in das Großhirn. „Nur die finstersten Rassisten sagen noch Nigger“, belehrte Sophia freundlich. „Und gleich wirst du behaupten, daß du noch nie vergewaltigt worden bist...“ „Stimmt ja auch!“ „Eben nicht! Denn wie sie dich ansehen, die Kerle, die Witze, die du mithören mußt... Alles das sind Vergewaltigungen: ideelle und potentielle.“ Bei zwei großen Käseplatten setzte Sophia Nele ihre ganze Welt und ihre ganze Biographie neu zusammen, und Nele zündete sich jede nächste Zigarette an der vorigen an und bestellte sich zu jedem kleinen Bier einen doppelten Doppelkorn. Nur um das tun zu können, bestellte sie kleine Biere, denn bis zehn wollte Nele eine so blaue Negerin sein, daß diese Löwin sie in ihr Lager mußte. Unbedingt wollte Nele lernen, was sie von der Welt noch nicht wußte: was machte eine blonde Igel-Prinzessin mit einer bewußtlosen exotischen Sex-Sklavin, die noch nie vergewaltigt worden war und gerade imAugenblick der ideellen und potentiellen Befreiung eben das erleben und nichts anderes sein wollte... „Gestern nacht“, sagte Nele, als sie Thyl nach der sechsten Freitagstunde aus dem Arbeitslosenschlaf küßte. „Das war eine Frau...“ „Ja“, sagte Uhlmann und gähnte. „Und sie war phantastisch“, phantasierte Nele weiter, was vielleicht passiert war. „“An den Titten ja sowieso, als Frau. Aber auch zwischen den Beinen... Hej, hörst du mir überhaupt zu?“ Uhlmann zog die Augenlider auf wie rostige Jalousien. „Klar! Und bestimmt war sie phantastisch. Sonst hättest du doch wohl nicht mit ihr geschlafen, nicht?“ „Verstehe... Du willst, daß wir das vor dir machen, ja? Willst du das?“ Uhlmann setzte sich im Bett auf und gähnte noch gründlicher. „Ich will einfach mein Land zurück: meine Arbeit, meinen Spaß und meine Feinde... Und wenn du mit phantastischen Frauen schlafen willst, ist das völlig okay! Ich will es ja auch...“ Nele ließ sich müde und bereitwillig auf das Bett fallen, aber trotz des alles versprechenden Anfangs stand Uhlmann auf. Er klapperte in der Küche, bis die Kaffeemaschine fauchte, und als er wieder in das Schlafzimmer kam, steckte er in seinem Billig-Jogginganzug und war nur noch unterwegs, um seinen Penner-Kumpel Lamme zu wecken. Es genügte aber nicht, alles zu verlernen, was offenbar falsch gewesen war, und sich durch fünf Bibliotheksmeter neue Paperbacks zu lesen. Sophia berechnete Neles Körper nach einer neuen Formel, spülte ihn mit Mineralwasser durch und entwässerte ihn mit Mineralerden, und den Kampf gegen das Rauchen stzte sie nur aus, weil ihr die Hungerkur und der Fleischentzug dringlicher schienen. Daß der warmwasserhahn der Dusche überflüssig und wie sehr ein normal knochenhaltiger Körper zu verbiegen und zu falten war, konnte Sophia der neuen Freundin vorführen, und auf die höchste Lust und ewige Seligkeit konnte Nele fast täglich Vorschuß bekommen. Sie brauchte niemanden und nichts mehr in ihren Körper zu lassen, um zwischen Tages- und Spätschau angenehm wach zu bleiben, und dann gab es zwischen Ohr und großer Zehe und zurück kein Teil ihres Körpers, das nicht zumGeschlechtsteil werden konnte. Nur daß Sophia scharf darauf achtete, daß Nele in der Schule durch nichts ihr besonderes Glück verriet, war ein dicker Stachel in ihrem Fuß und ein glühender Bolzen in ihrem Gehirn. Dafür entschuldigte sich die große Befreierin und Lehrerin nicht nur nie, sondern sie setzte sehr analytische und sehr feministische Gespräche an, wenn der kleinen Emanzipierten und willigen Novizin einmal einFehler unterlief. „Da mußt du doch nicht mir böse sein“, wiegelte Sophia beim unfermentierten Tee auf ihrem Futon, nackt und im Schneidersitz, ab. „Schwarz, oppositionell und lesbisch: da machen dir deine stalinistischen KollegInnen doch jede Schulstunde zur Hölle!“ „Azubi bei einer West-Lesbe“, sagte Nele verständnisvoll und blies sich doch noch einmal zum Protest auf. „Aber meine Hölle ist, daß ich das Wichtigste in meinem neuen Leben verstecken muß! Und wenn ich deine Bücher richtig verstehe, ist das A und O, zu unserer Veranlagung zu stehen!“ „Aber das will ich doch!“ „Es merkt nur keiner, ja?“ „Nein! Soweit ich meine Bücher verstehe, verlangen sie nicht, daß wir das überall machen...“ Ohne umzukippen, stellte Sophia das Glas neben dem Bett auf den Boden. „Herr Ober: erstens sind wir lesbisch und zweitens wollen wir zwei Bier! Das ist doch Scheiße! Und wo das hingehört, da willst du ja nicht hin...“ Nele mußte, um ihr Glas loszuwerden, den Schneidersitz aufgeben, und so zog sie gleich noch das Laken glatt, und in der Hündchenstellung schüttelte sie die noch immer beachtlichen Schoko-Titten und kreiste mit dem abgemagerten Hintern. Sie kaute ihre Unterlippe noch breiter und begann so schwiotzen, daß sie eigentlich gleich noch einmal unter die kalte Dusche gemußt hätte. Sophie meinte schon wieder einen ihrer Lesben-Clubs oder wenigstens ein Lesben-Kino, und diesmal hatte sie ihre Einladung so plaziert, daß Nele nicht mehr ablehnen konnte. „Morgen“, bat sich Nele eine letzte Frist aus und wußte, daß sie gleich nach Schulschluß Thyl eine letzte Chance geben mußte. Bei Tageslicht sah die Wohnung so sehr nach Männern aus, wie sie nach Mitternacht roch, und Nele hätte nicht entscheiden wollen, ob Lord Baskerville oder ihr Weißschwanzgnu struppiger aussahen. Trotzdem setzte sie sich dicht neben Thyl und sah ihn so intensiv an, daß er nach fünf Minuten genervt das Buch zuklappte. „Nur ‘ne Fachfrage“, sagte Nele. „Wenn ich gefragt werde, warum die Kaffeemaschinen-Bude um die Ecke zumacht, was sage ich dann?“ „Hat sich nicht gelohnt“, sagte Thyl und hielt Nele die Zigarettenschachtel hin. „Und das stimmt bestimmt, obwohl es so in der Zeitung stand.“ „Und die Leute, die dort gearbeitet haben?“ „Tja, die hatten halt Pech.“ „Und?“ „Und was?“ Nele zerdrückte die noch nicht angezündete Zigarette im übervollen Aschenbecher. „Ich soll zwanzig Arbeitslosen-Kindern sagen, daß Papa und Mama halt Pech hatten?“ „Natürlich nicht!“ Thyl gab Nele einen glimmenden Glimmstengel. „Wenn wir annähmen, daß ein Betrieb nicht völlig fremden Leuten möglichst viel Gewinn abwerfen muß, daß es ja auch ein Gewinn wäre, wenn er möglichst vielen Leuten ausreichend Lohn zahlt...“ Nele atmete auf. „Ja, so werde ich das sagen!“ „...dann ginge das auch. Aber das nannte man eben Sozialismus...“ Thyl grinste ziemlich unverschämt, und obwohl ihr der Abschied von Lord Baskerville so schwer fiel, wie ihr die kalte Abenddusche schwer fallen würde, ließ Nele ihn in seiner Betonköpfigkeit und Herzlosigkeit zurück. |
|