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Daß der Dicke Chef Doktor Marietta Sommer persönlich anrief, war noch immer eine Beförderung. Als sich zwei Ärzte erkühnt hatten, dem Neuen Forum die Poliklinik erobern zu wollen, hatte der Dicke Chef die vorgeschickten Bittschwestern wie erwartet angebrüllt. Ob sie immer noch nicht gemerkt hätten, daß die verkalkten emporgekommenen Hilfs-Dachdecker mit niemandem, weder in den alten noch in neuen Foren reden wollten, hatte der Dicke Chef gewütet. Nur gezwungenermaßen dulde er in der Klinik ja die Versammlungen der eigenen Partei, da werde er sich doch nicht freiwillig ein neues Kuckucks-Ei ins Nest holen. Im übrigen seien die beiden nur nützliche Idioten von so postengeilen wie arbeitsscheuen Nichtskönnern, und danach sollte der Dicke Chef geschnauft und sich als heimlicher Feminist enttarnt haben: “Pardon: Idiotinnen mit ganz großem ‚I‘, wollte ich sagen!” Am Rande der nächsten Visite hatte der Parteisekretär den Dicken Chef vertraulich beiseite genommen, um diese Gerüchte hinter verschlossener Tür zu überprüfen, und diese Antworten hatte Doktor Marietta Sommer mit eigenen Ohren gehört. “Ich werde dir sagen, was schlimm daran ist”, dröhnte der Dicke Chef. “Nicht daß ich das sage, sondern daß diese Hilfs-Handwerker tatsächlich absolut taub und total verkalkt sind! Wandelnde Kalksteinbrüche sind sie allesamt, jawohl!” “Aber Genosse Metz!” “Und weil die Schnecken, pardon, SchneckInnen, Freiheit, Schwesterlichkeit und Gleichheit eingemahnt haben, verbiete ich eben auch uns die Versammlungen im Betrieb! Sowieso Zeitverschwendung!” “Du kannst doch nicht die Partei verbieten”, schrie der Parteisekretär auf, aber der Dicke Chef ließ ihn einfach in seinem Sessel sitzen und stampfte grinsend vor das zusammengelaufene Stationspersonal. “Notfalls unterschreiben Sie ja wohl für meine Freilassung, Herr Kollege”, hatte der Dicke Chef sich dennoch unlustig an Doktor Bertolt Land gewandt. “Neuerdings unterschreiben Sie ja doch alles...” Nur, daß der schief angesprochene Kollege nicht sofort in die Pathologie hinabkommandiert worden war, war neu gewesen, wenn Marietta Sommer ihrem Persönlichen Zahnklempner glaubte. Nicht einmal er, der immerhin der Neffe des Dicken Chefs war, wußte genau, warum sich der Professor solche Sprüche erlauben durfte, aber für eine Sensation hielt er den Auftritt nicht. “Ich verreise”, donnerte es aus dem Telefon. “Weiter als bis nach Ungarn... Und für dich ist nicht mal das ein Anlaß, mir in den Arsch zu kriechen, liebe Nichte?” “Na, ja”, sagte Doktor Marietta Sommer und hielt den Ton, bis ihr eine halbwegs ungefährliche Antwort einfiel. “Ich habe doch gerade einen ziemlich dicken Bauch, Herr Professor.” “Komme trotzdem rüber”, befahl der Dicke Chef. “Und Radio hörst du wohl nicht, ganz nebenbei?” Marietta Sommer legte den Hörer auf und blieb noch ein paar Atemzüge lang sitzen. Die Kreuzung aus Zahnarzt und Chirurgin entschuldigte ja fast alles, und Marietta Sommer hielt bewußt Abstand von Roberts Familie. Die Metzger, wie die Kollegen die Dynastie nannten, besaßen diese Klinik etwa so wie die Wandlitzer Handwerker den Staat, allerdings schon zwei Generationen länger. Es war ein Familienbrauch, daß die Herren Ärzte unter dem Klinikpersonal nach der geeigneten Metze Ausschau hielten, und zur Tradition gehörte ebenfalls, daß die erwählte Sprechstundenhilfe umso mehr auf die Etikette achtete. Selbst Robert sagte nicht “Protokoll” oder “gute alte Sitten”, sondern “Etikette”, und eigentlich bereute Marietta Sommer längst, ihm schon nach dem zweiten Zahnarzt-Besuch nachgegeben zu haben: als auch noch mißlungene Zigeunerin, für ihr Alter zu ungeübt und mit aller Vorsicht einer besiegten Ärztin. Daß ihr Schnauzenklempner Erfahrrung hatte, zwischen Eltern-Villa und Geliebten-Wohnung zu pendeln, alles Zeit- und Bett-Geschehen bestimmen wollte und so sehr gegen die Abtreibung war, daß er die Mutter des Stammhalters trotz ihrer vier Jahre Altersvorsprung lieber heiraten wollte, war einfach zu spät herausgekommen. Da hatte sich Marietta Sommer schon an die regelmäßige Gesellschaft, den mäßigen Unterleibskitzel und hundert Normalitäten gewöhnt, und sie wollte ja nicht als bejahrtes Geschlechtsteil auf die Anzeigen von Männern, die erfahrene Frauen unwichtigen Alters kennenlernen wollten, antworten müssen. Sicher gab es irgenwo im Hohn Norden auch noch ihre warme Schwester Barbara, aber die Promotion, die zahlreicheren Kariere-Tretleitern und die bessere Windelversorgung banden jede normale Ärztin nun mal eher an die Hauptstadt. Hier würde sie vergreisten Generalen einen weiteren Soldaten, verdorrten Bürokraten Nachwuchs oder ein Stempelkissen und dem weltvernichtenden Patriarchat einen kräftigen Ritter gebären, und da durfte sie es sich nicht mit dem einzigen vernünftigen Mitglied der Schwiegerfamilie verscherzen. Immerhin hieß es, daß der Professor gelegentlich sogar von dem Alkohol trank, in den eigentlich mißgestaltete Babies eingelegt werden sollten. Marietta Sommer zog den Schwangeren-Mantel ihrer Vorzugs-Schwester über und grinste. Daß der Thronerbe unter gebrauchten Sachen und in einer heimlichen Lesbe heranwuchs, war ihre Notbremse gegen zuviel Familienglück, und vielleicht würde sie ihn einfach Ödipus nennen. Der Dicke Chef erwartete Doktor Marietta Sommer in seinem schon aufgegebenen Büro, hinter dem mit Flaschen verstellten und mit Asche gepuderten Beratungstisch. Es sah aus, als habe er sich im Sessel verklemmt und sei auf der panischen Flucht seiner Gäste vergessen worden. Nur eine verheulte Jungschwester war bei ihm geblieben. “Sie sind”, fragte Doktor Marietta Sommer. “Ich dachte, Sie würden...” “Äch”, ächzte der Dicke Chef. “Wo Siezt man, pardon: mensch, denn den lieben Onkel, der nach Amerika geht... Zu den Sandinisten...” Sein Daumen senkte sich über dem Couch-Platz, auf dem er die künftige Nichte haben wollte, und als sie saß, legte er ihr die fette Hand auf den prallen Bauch. “Vielleicht sollte ich mir ein bißchen Arbeit mitnehmen, nach Nicaragua libre? So nennen die dichtenden Bauern da unten ihr schönes Land, und warum sie da unbedingt den Sozialismus einführen wollen, verstehe ich zwar nicht... Aber andererseits und ab heute...” “Sie... Sie haben”, schluchzte die Schwester, “sie haben die Mauer aufgemacht.” “Ja, und? Wer”, fragte Doktor Marietta Sommer. “Und was für eine Mauer?” “Diese Mauer...” Professor Dr. Dr. sc. Metz zündete sich eine Zigarette an, obwohl die vorige auf dem vollen Aschenbecher verglühte. “Und die lieben KollegInnen, mit großem ‘I’ gesprochen, sind mitten in das besoffene Gewühl... Ich möchte nur zu gern wissen, warum! Und Sie heulen gefälligst aus einem anderen Grund!” Doktor Marietta Sommer zog den Kopf zwischen die Schultern. “Aber das ist doch phantastisch...” “Eine Sauerei ist das”, widersprach der Dicke Chef lautstark. “Das Ende der Diktatur der Arbeiterklasse und der Beginn der Diktatur der Arbeitsscheuen! Und alle Kunstfehler-Erfinder von den ostfriesischen Inseln werden angeschwommen kommen und die Chefsessel besetzen... Aber was geht’s mich an? Ich gehe in den Urwald! Und sie haben doch tatsächlich, die Herren und Damen Demokraten, seit einem Monat eine Leiche im Keller liegen lassen!” “Auf der Intensivstation”, berichtigte die Schwester vorsichtig. “Sie hatten eben Angst vor der Stasi!” Der Patient war in der Nacht des 7. Oktober von der Polizei eingeliefert worden, bewußtlos, voller blauer Flecken und ohne jedes Papier. Niemand wußte zu sagen oder wagte zu fragen, wann er warum an die Technik gehangen worden war, und ihn aufzuwecken, mochte erst recht niemand unternehmen. Ödipus verpaßte Marietta Sommer zwei kräftige Leberhaken, und sie fingerte eine F6 aus einer der verlassenen Schachteln. Rauchen war gewiß schädlich, und daß Babsi zweieinhalb Jahre lang ledig und lesbisch auf ihren Anruf gewartet hatte, war ebenso gewiß unwahrscheinlich. Niemand würde ihr also übel nehmen können, wenn sie dieses wiederholte Wunder jemandem überließ, der für solche Risiken bezahlt wurde oder fester mit der Welt der Normalen verbunden war, aus West-Berlin zurück oder aus Ost-Friesland herüber kam. Marietta Sommer langte auch noch nach dem legendären Schnapsglas vor dem Dicken Chef, kippte den Fusel und hustete. “Ich muß noch mal telefonieren”, krächzte sie. “Und dann bringe ich das in Ordnung. Oder gerade nicht...”
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