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2.Rein rechnerisch waren sie eine beachtliche Arbeitslosen-Versammlung, und wenn Uhlmann die Straßenverkehrsordnung als eine Art Grundgesetz verstand, war er bereits mitten in einer ganz ordentlichen Revolution. Er hatte die blaue Whisky-Fahne mitgebracht, Neles Lesben-Shuttle steuert das Blei und die Panzergeräusche bei, und die Polizei war längst geflohen. Alte Genossinnen und Genossen wollten in die ehemaligen straßen namens Lenin, Bersarin, Lenin und Dimitroff, und links vor Uhlmann klingelte eine Bahn der Aurora-Linie Sturm. Eigentlich mußte nun nur noch jemand aussteigen und vorschlagen, bei der Grunewald-Firma Meerestief-und-Himmelhoch-Bau GmbH Begrüßungsgeld für Begrüßungsgeld eine neue Mauer zu kaufen. Daß sie nur als Entsorger der ältesten Gebrauchtwagen gebraucht worden waren, war ja zu sehen, zu hören, zu riechen und mit den Stoßstangen zu spüren. Uhlmann wußte das, seit er die Zettel aus dem ersten Ministeriums-Nadeldrucker auf den gepreßten Gartentisch gelegt hatte, der zusammen mit zwei Pappwänden und vier Schulstühlen ihr Messestand gewesen war. “Ja, das ist ein Messestand”, erklärte der Altkölner Bär mit der hellblonden Hinterkopfmähne Lamme, Thyl und dem kahlköpfigen Rocksänger mit dem zottigen braunen Hund. “Euer Messestand... Und ich freue mich ehrlich, daß ihr hier seid!” “Er freut sich wirklich, daß wir hier sind”, bestätigte Lamme, der zum ersten Mal der offizielle, wenn auch zu nichts bevollmächtigte Vertreter des Kulturministeriums war. “Und er hat sogar unser Konzept gelesen, und er findet es in manchen Fragen besser als ihr eigenes. Stimmt’s?” “Ich habe übrigens euer Konzept kurz überflogen”, sagte der Messechef zuverlässig. “Und danach scheint es ganz brauchbar! Aber jetzt muß ich los, leider... Das ist schließlich die größte unabhängige Rock-Messe der Welt, und ich bin tatsächlich ihr Chef. Aber wir sehen uns noch...” Thyl hätte dem kahlen Sänger gern gesagt, daß er auf eine seinem Alter angemessene und vornehm theoretische Art so etwas wie ein Fan der Band war, aber in der riesigen Halle mischten sich zu laute Songs aus zu vielen Papp-Boxen. Zweitens sah der Hund bis zur Aggressivität verängstigt aus, und drittens kam fast im selben Augenblick ihr erster West-Besuch. Er wollte zwar weder den Plan ihrer Akademie für Unterhaltungskunst sehen noch fünftausendmal Casablanca auf Ostdeutsch ordern, aber als ihre Vorleistung zur finalen Wiedervereinigung nickten sie zu dritt: nein, den vierten Stuhl brauchten sie im Moment nicht. “Tja, wenigstens war es ein Anfang”, sagte Lamme und bot vergeblich von seinen Repräsentations-F6 an. “Also ich halte es für ein Omen”, widersprach Thyl. “So oder so”, sagte der Rocker. “Wir beide müssen uns mal die Stadt ansehen.” Thyl verabschiedete sich dagegen nur für einen Messe-Rundgang, wurde auf der Straße von einem Plakat ins Römer-Museum abgelenkt und erinnerte sich beim Herauskommen an den alten Arbeiter-Schwur, diesem System keinen Groschen zu schenken. Im Supermarkt war sehr viel mehr Cola sehr viel billiger als in der Zimmerbar, und weil es verdammt heiß und das Badezimmer fürstlich war, drehte Thyl den Hotel-Fernseher, stellte MTV messelaut und legte sich für den Nachmittagsschlaf in die Wanne. Weil er ein Geschenk für Nele brauchte, sah Thyl auch am nächsten Tag noch einmal auf der Messe vorbei und ließ ihr ein T-Shirt mit einem Schwarz-Weiß-Foto von ihr bedrucken, und am Sonntag mußte er hin, weil der Rock-Manager mit dem Mitfahr-Import-Golf von da aus nach Hause wollte. “Ich wette, daß nicht ein Blatt fehlt”, sagte Thyl, als er die Konzeptionszettel in den Recycling-Sack warf. “Etwa zehn”, widersprach nun Lamme. “Na, sie brauchten nebenan Schmierpapier. Weiter nichts.” Nele dagegen war ein Land, das ihr Mutter und Beruf genommen hatte, keine Träne wert, und für sie weinten Uhlmann und Lamme nur ihren Kerkermeister-Stellen nach. Nele sagte ihnen das auch ganz direkt, und ihre neuen Schulbücher vertrugen sich mit dem Buch der Bücher sehr gut. Die Freiheit aller Menschen sollte über allem stehen, jeder und jede sollte alle moralischen Geschäfte machen dürfen, und im Prinzip würde es allen prima gehen, wenn diese beiden Prinzipien einmal überall gesiegt haben würden. “Total bescheuerte Negerinnen als Staatsbürgerkunde-Lehrerinnen” protestierte Uhlmann flüsternd. “In so einer Welt möchte ich aber gar nicht leben!” “Mußt du ja nicht!” Lamme grinste breit. “Frauen sind keine Menschen, und Neger sind geborene Sklaven, da kann sie ja die alten Griechen und George washington fragen! Wenn ihr Paradies fertig gebaut ist, wird ihr Platz darin ein Bett im Bordell sein.” Nele entschloß sich, zu lachen. ”Immer noch besser als gar kein Sex mehr! Ihr kotzt doch nur ab, weil ihr nichts Besseres mehr seid und ich Glück habe...” Lamme studierte einen Fleck im Linoleum, und Uhlmann zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie sehr konzentriert. Sogar Lord Baskerville bekam mit, daß zwischen den Dreien etwas nicht stimmte. Er blieb unter dem Küchentisch und stupste die Schnauze im Wechsel gegen ihre Beine. “Also...” Uhlmann goß allen vom roten Tischwein nach. “Wo einer was zählt und zwei nicht oder umgekehrt: das ist ein Verhältnis, das nichts taugt. Heute wie gestern oder morgen...” “Das war ja auch ungerecht von mir”, lenkte Nele ein. Sie stand auf und ging in Lammes Schlafzimmer, um den Schnellhefter mit dem hoffnungsgrünen Plasterücken zu holen. Seit es die dicken Westberliner Zeitungen gab, schnitt sie alle Stellenanzeigen aus, die für ihre Männer infrage kamen, und während die beiden in der Küche fernsahen und die Ozeane neuer Schnapssorten erkundet hatten, hatte sie ihnen daraus einen großen bunten Arbeitsmarkt zusammen geklebt. Abo- oder Anzeigenwerber wurden dringend gesucht, Bauhelfer und Bratwurst-Verkäufer, und zwischen Callboy und Zahnarzt gab es überhaupt nur vier überflüssige Berufe: Q, X, Y und Philosoph. “Märtyrer würde ich gern werden”, sagte Uhlmann. “Dann wäre ich tot, und du würdest vielleicht doch noch mitkriegen, was hier läuft und was die mit euch machen!” “Ja, und ich wird es wohl als Zuhälter versuchen”, sagte Lamme, während er den Schub des alten Küchentischs aufzog und die Fernbedienung für den neuen Farbfernseher hervor holte. “Denn wenn alles falsch war, dann doch auch Liebe, Gleichberechtigung und all der Käse!” “Ihr blöden Stalinisten!” Besonders ärgerte Nele, daß sie in vierizig Jahren Kommunismus keine Küchentür abbekommen hatte, die sie nun knallen konnte. Der braune Cord-Vorhang schluckte außerdem nur so wenig von den Nachrichten, Krimiserien und Soft-Sex-Filmen, daß Nele sich wieder unter den Kopfhörern auf das Bett legen mußte, und die Bob-Marley-CD machte alles noch schlimmer. Der ganze Elektronik-Kram war ja von zwei angesparten Unrechtsgehältern angeschafft, die Nele auf ihrem erstmals vollen Konto 1:1 umgetauscht hatte. A wie arbeitslos würden die beiden Kerle von ihren blonden Silikon-Sammelstellen ausruhen, wenn sie sich längst mit fremden Kindern stritt, und daß Uhlmann wirklich eingehen wollte, war leider auch ihr Problem. Als Uhlmann neben ihr auf das Bett fiel, ungeduscht und nach Qualm und Alkohol riechend, zog Nele das Nachthemd über den Kopf. Sie rieb die Brüste an seinem T-Shirt, bis Lamme aus der Küche in das Wohn und Schlafzimmer gestapft war. “Also ich bin ja eine Märtyrer-Tochter”, protestierte Nele, “und ich möchte nicht auch noch eine Märtyrerwitwe werden. Kein bißchen lustig fände ich das! Und obwohl das jetzt nicht unbedingt danach aussieht, du hängebäuchiges Weißschwanz-Gnu: das ist immer noch meine Welt! Ich tue ihnen nicht den Gefallen, abzuhauen oder auch nur rumzuheulen! Ich nicht! Und die können gern die S-Bahn, das Haus und sogar das Bett hier in Aktien verwandeln und hin und zurück verkaufen! Krupp oder Krause können von mir aus so reich werden, wie sie wollen! Aber...” Nele gähnte wie eine Löwin und stieß Uhlmann versöhnlich mit dem Ellenbogen an. “Aber es ist besser für Krupp oder Krause, sie versuchen gar nicht erst, mich aus ihrer S-Bahn, ihrem Haus oder ihrem Bett zu schmeißen. Denn dann, meinLieber, werden sie sich wünschen, daß nicht mal ihre Großeltern geboren worden wären, und Josef Stalin wird ihnen plötzlich wie ein netter alter Onkel vorkommen!” Es war eine der längsten und philosophischsten Reden, die Nele jemals gehalten gehalten hatte, und sie mochte nicht glauben, daß ihr ehemaliger Thyl dabei eingeschlafen war. Lieber schlief sie mit der Vorstellung ein, daß ihm ihr Radikalismus die Sprache verschlagen hatte und er am Morgen weniger lebensmüde aufwachen würde. Statt eines solchen Morgen kam aber die Nacht, in der er sein Unlust auch noch ganz unentschuldbar entschuldigen wollte. “Deine Gesinnung hat ja dieselbe Farbe wie dein Fell”, nörgelte Uhlmann, und da drehte sich Nele unter seiner gleichzeitig ausgestreckten Versöhnungshand weg. “Und du bist jetzt so potent wie deine sozialistische Wirtschaft immer war”, zischte Nele als Schwarze Mamba. “Und du willst ja gar nicht mehr arbeiten und nicht mehr bumsen! Du suchst nur noch Gründe zum Jammern!” Nun, nachdem er kurz neben Margit gelegen hatte, wußte Uhlmann, daß er auf dieses Wiedersehen gehofft hatte, und er befand seine Seele aufgeräumter als die Festplatte des gebraucht gekauften Computers. Wenigstens hatte Nele sich nicht aus der Sozialwohnung hinausgeschlafen. Sie beutete nicht einmal die Träume der Arbeitslosen von Döbeln aus, und selbst wenn ihre Gesinnung schwärzer als die des Kanzlers werden würde, würde doch ihre Hautfarbe verhindern, daß sie unterschiedslos in der Herde verschwand. Uhlmann hatte Zeit für diese Beichte bei sich selbst, weil die Ampel noch immer auf revolutionäre Situation stand. Um ihn hupten seine jüngeren und dynamischeren Zeitgenossen, aber Uhlmann sah sich gelassen um. Er würde sich aussuchen können, ob er vor Betsys Toyota in diese Zukunft abbog oder geradeaus in die Vergangenheit fuhr, wie er es sich vorgenommen hatte. Sogar verbinden ließ sich das, indem er seinen ersten Privat-Film als Honorar für die neue Rolle aushandelte, und Nele würde ihm statt Vorwürfen wieder einmal die angolanische Sklavin der frischen Verliebtheit machen. Fast enttäuschte es Uhlmann, daß neben ihm schwarze Autos auf das Startsignal warteten. Uhlmann registrierte es, und auch das Nicken des Mercedes-Piloten war ihm nicht entgangen. Uhlmann sah genauer hin und starrte schließlich hinüber. In Uhlmanns Spur wartete, lässig rauchend, der Agent 007 James Bond. Wieder nickte er, und gerade weil James Bond an diesem Nachmittag weder Sean Connery noch Roger Moore glich, glaubte Uhlmann, daß er seine Lizenz zu töten dabei hatte. Links von Uhlmanns Trabant grüßte eine noch nicht einmal alte BMW-Fahrerin, und zwischen ihren dick schwarz begrenzten Lidern versprachen blaßblaue Augen die ganz harte Erotik. Knochige Finger mit schwarz gelackten Nägeln schoben eine unanständig dicke Zigarre zwischen die schmalen, ebenfalls schwarzen Lippen. Uhlmann faßte das Lenkrad des Trabants fester und holte tief Luft. Er kannte die beiden aus den Träumen, die er gemeinsam mit Nele geträumt hatte, und er war sicher, daß sie ihre Straßenpanzerkreuzer gegen ihn aufgefahren hatten. Sobald die Ampel umschaltete, würde der Trabant in der eisernen Zange stecken und damit blitzschnell zermalmt sein. Uhlmanns Chance war nur minimal, und als das Licht endlich umsprang, bekam er diese Chance mit dem ersten Gang auch gar nicht erst in den Griff. Soweit er das mit Klaus Lammert diskutiert hatte, lag das an der schon ziemlich abgenutzten Kupplungsscheibe. Der Motor heulte laut auf, aber der Trabant blieb eisern an der Haltelinie stehen, während die Killerfahrzeuge in den Nebenspuren lossprangen und vor Uhlmann aufeinander prallten. Jeder bessere DDR-Bürger hätte seine Gehhilfe in diesem Augenblick an dieser Stelle gehabt. Um Uhlmann herum quietschten die Bremsen und krachte der größte und letzte Stolz seiner Landsleute ineinander. Hinter ihm war die Blechlawine noch langsamer, und einen Augenblick, bevor sie Uhlmann tonnenschwer begrub, gehorchte die Gangschaltung doch noch. Mit kleinen Hopsern setzte sich der Trabant in Bewegung, und dann rollte er schneller werdend auf die Explosion der kreiselnden, vollgetankten Tötungsmaschinen zu.
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