Daß Till ihn beim Auszug bestohlen hatte, bemerkte Oberleutnant Uhlmann nie, und Till war noch zwei Jahre später so enttäuscht darüber wie zufrieden damit, wann immer er im Buch Begegnungen mit Genossen Stalin blätterte. Der Anlaß für Tills Verbrechen war Stalins Satz gewesen, der Polarflieger Tschkalow wisse besser als Stalin, was für Wetter er für einen Polarflug brauche. Das unterschied für Till den schnurrbärtigen Nasenmenschen positiv vom kugeligen Physiklehrer und Parteisekretär, der besser als zweihundert Schüler über moderne Haarschnitte, Jeans und die Verderbtheit der Beatles Bescheid wußte.

Till war zwölf geworden, als Vetter Hartmut Stellvertretender Sekretär der FDJ-Grundorganisation wurde, um trotz der sozialen Herkunft und seiner mäßigen Leistungen noch auf die Erweiterte Oberschule delegiert zu werden. Über diese Entscheidung verstritt sich der Ackermann-Clan zum ersten Mal.  Onkel, Tante und Vetter verteidigten sich, daß Vetter Hartmut ja auf keine bedeutende Erbschaft hoffen könne. Tills Mutter und die Großmutter warfen  der  anderen Parteiung Karierrismus und Erbschleicherei vor, und Till und der Großvater waren dem Geierschwarm insgesamt böse, weil er die dümmsten Kapitalisten-Klischees bestätigte. Mit Stalins Hilfe gelang es Till schließlich, die Entspannung einzuleiten.

“Jungbonze, Genosse Mörderchen”,  sagte Till freundlich in das Zimmer seines schulischen Vorgesetzten, “ich hätte ein Geschenk für dich. Wir müßten aber tauschen.”

“Eine Aktie gegen meine Überzeugung, wie”, lehnte Vetter Hartmut ab. “Du wirst ja sowieso alles erben, nicht? Also laß mich meinen Weg gehen, klar?”

“Häufig stelle ich mir vor”, las Till mit allem auf zwei Rezitatoren-Wettbewerben ausgezeichneten Geschick vor, “wie Genosse Stalin eben mit dem Bleistift in der Hand und  der rauchenden Pfeife im Munde in seinem schmucklosen Arbeitszimmer sitzt und, ungeachtet seiner Müdigkeit, ungeachtet der späten Nacht, vom neuen Leben der Menschen schreibt, für das er so unermüdlich kämpft, ohne seine Kräfte und sein Leben zu schonen...”     

“Klar, daß du damit nichts anfangen kannst”, sagte Vetter Hartmut und  hob das Lehrbuch Staatsbürgerkunde vor die  Augen. “Und was willst du dafür haben?”

“Nur ‘n paar Bilder.”

“Aber nicht die Beatles, die nicht! Und nicht Winnetou! Und die deutschen Fußballer auch nicht, also die westdeutschen.” Vetter Hartmut behielt die Klemmappe mit den ordentlich ausgeschnittenen und aufgeklebten Illustriertenfotos und Kaugummi-Bildern in der Hand, bis Till nickte.

“Dann hast du ja kaum noch was zu bieten”, sagte Till und bog die Mappe auf. Als besonnener Geschäftsmann legte er auch die Blätter, wegen denen er gekommen war, erst einmal beiseite und zog ein besorgtes Gesicht. “Mager... Ohne Beatles und ohne Winnetou ist das doch eher ein Ramschladen als eine Sammlung.”

Zuerst entschied sich Till für ein Stück Mode-Katalog, für eine pralle Negerin im knappen weißen Reizkorsett. Beim nächsten Durchblättern wählte er ein schwarzes Kätzchen zwischen den Brüsten eines Aufklärungs-Mä chens und Sharon Tate, großäugig und feenhaarig. Erst dann griff Till nach dem Hauptpreis, einer zwischen den aufgeknöpften Jeans und dem roten Lederhalsband nackten und goldschimmernden Japanerin.

“Ist ja ein gebrauchtes Buch”, sagte Till mit großzügigem Unterton.

“Also...”  Vetter Hartmut schielte nach seinem schärfsten Foto und klappte Tills dunkelblaues Büchlein zu, behielt aber den Daumen noch zwischen den Seiten. “Jetzt, wo die Amis in Vietnam so hausen, in ganz Asien, solltest du nicht... Na, gut!” Daß Till sich anschickte, die Bilder scheinbar leichten Herzens wieder aus der Hand zu geben, überzeugte ihn wohl am meisten. “Und in deinem Alter genügen einem ja wohl noch papierne Titten, Kleiner!”

“Für jedes Paar echte klaue ich meinem Alten ‘n Band von Stalins Gesammelten Werken”, bot Till halb im Ernst an. Bevor es dazu kam, endete Vetter Hartmuts erste politische Karierre jedoch statt mit einem Platz in der Abiturstufe mit dem Nachweis einer Lehrstelle, und Till mußte noch lange Jahre auf die echte Liebe warten.

Zuerst war ihm ihr Schatten aufgefallen, der einzige in seiner Kino-Reihe und einer von zwölf gegenüber Iwan dem Schrecklichen. Till dachte sofort an eine reinrassige Ururenkelin von Häuptling Crazy Horse, und als das Licht anging, enttäuschte ihn, daß das Mädchen unsensationell dunkelblond war. Ansonsten war das Mädchen freilich so kurz und zierlich, so hakennasig und lesekrumm, wie es den Anschein gehabt hatte. Margit war zum Verlieben häßlich, und Till mußte nur etwas bummeln, um zeitgleich mit ihr in den anachronistischen Schneeregen zu treten.

“Eisenstein hätte Das Kapital verfilmen können, der Eisenstein schon. Meinen Sie nicht auch?” Es war eher ein lautes Nachdenken als ein Gesprächsanfang, und wieder ganz für sich zerrte die Kleine den Mantelkragen bis zu den indianischen Backenknochen.

“Ich könnte das auch”,  sagte Till hastig. “Das heißt: ich könnte mir auch vorstellen, wie... Quatsch! Ich wollte sagen... Hast du nicht noch Zeit auf ‘n Mensa-Bier?”

Sie sah ihn gründlich an und sah weder einen Schürzen- noch einen Großwildjäger. Eher sah Till wie das Modell für einen bronzenen Unbekannten Studenten aus.

“Übermorgen abend?  Heute kann ich mir  Deutschers Trotzki-Biographie borgen.”

“Übermorgen ist Heimfahrt-Wochenende”, erinnerte Till. “Nicht, daß mir das viel bedeutet, aber wenn ich meine Jeans noch ‘ne Woche einsaue, “Tja, dann...”

   “Dann mußt du eben mitkommen”, sagte Till begeistert.  Es war nicht seine Art, aber seit Ulrikes Wechsel zur Palästinensischen Volksfront hatte  er sich nicht mehr so begeistert, seit vier Monaten nicht mehr. “Und mit der Biographie, wenn das geht...”

“Drei Bände in drei Tagen? Und Mama würde mich außerdem  für Sohnies Braut halten!”

“Nichts dagegen”, jauchzte Till. “Überleg es dir wenigstens! Und sei Freitag am D 455, falls...”

“Ich heiße übrigens Margit”, sagte Margit, “Margit  Zenker. Nur, falls du das auf dem Standesamt brauchst. Oder heiraten wir kirchlich?”

Anfangs war es der Zug, in dem sie nur dicht an dicht stehen konnten, und Till bekam nach jedem Schienenstoß einen röteren Kopf. Er verlagerte sein Gewicht so, daß die linke Schulter gegen das eisige Fensterglas drückte, aber da lächelte Margit, umarmte seine Hüfte und kam ihm besonders mit dem Schoß nahe. Von da an, ziemlich  exakt seit Ost-Riesa, wußte Till, daß er sie wirklich heiraten würde.

Der Großvater hatte die allgemeine Bestürzung  zuerst formuliert, kaum daß Margit ihre Familie grob vorgestellt hatte: der Vater Rat des Kreises und die Mutter Direktorin einer neu verstaatlichten Bude.

“Bekehrte HJ”, knurrte Adolf Ackermann, während die Brandenburgischen Konzerte kreisten. “Und wir Ausbeuter, Kindchen, haben von unseren Direktorensesseln aus weniger ruhige Kugeln geschoben als diese... Als diese Karierre-Proleten, Anti-Kapitalisten,  die bekehrte...”

“Vater”, mahnte Tills Mutter wie zur Zeit ihrer eigenen Verlobung.  “Die Verstaatlichung  seiner Firma hat ihn doch etwas verbittert, Fräulein.”

“Bitter ist”, berichtigte der Großvater, “was aus der Firma ‘worden ist!”

“Wir”, sagte Margit scharf, “wir mußten nicht erst bekehrt werden. Mein Großvater wollte Sie schon aus diesen Palästen jagen, bevor Sie sich den österreichischen Halsabschneider gemietet haben.” Till strahlte als einziger. Sogar Vetter Hartmut, der vom Bau in die FDJ-Kreisleitung gewechselt war, fühlte sich gekränkt, zumindest in der Familienehre. “Und wenn Sie dreimal Recht hätten, Herr Ackermann, wenn meine Eltern die Fabriken nicht besser leiten  könnten als Sie,  dann dürfte nur ich ihnen einen Skandal machen. Entschuldigung!”

Tills Großvater, der nur sein Loblied auf Karl Marx hatte einleiten wollen, trank den Kognak wie eine unangenehm schmeckende Medizin, stand aus dem Patriarchen-Sessel auf und schlurfte zur Tür. Till machte sich nun doch Sorgen, aber der Großvater drehte noch einmal um, um die Trotzki-Biographie von der Kredenz zu nehmen. Tills Mutter, Onkel, Tante und Vetter schwiegen schwer, und schließlich gähnte Margit laut und falsch.

“So geht’s der Studenten-Verwandtschaft halt. Eigentlich werden nur ihre Waschmaschinen, Kühlschränke und Gästebetten besucht. Sie entschuldigen mich, ja?”        

“Das verstehen wir doch”, sagte Tills Mutter zuckersüß, aber als Margit davon war und Till ihr folgen wollte, hielt sie ihn an der Gute-Nacht-Hand fest. “Bist du denn total übergeschnappt? Willst du Opa denn mit Macht unter die Erde bringen?”

“Und dann mit so einer!” Vetter Hartmut grinste breit.  “Die Ohren sind ja ganz enorm, aber ansonsten...”

“Die Ohren? Die Ohren sieht man unter der Mähne doch überhaupt nicht”, keifte Tante Adelheid. “Und hätte ich so eine Brust, so eine Brust in dem Alter schon, dann würde ich einen BH und drüber keine so enge Bluse tragen!”

Margit ihrerseits hatte jede Sekunde Verspätung als einen Verrat gezählt, lag schräg in Tills Bett und spielte so konsequent Tiefschlaf, daß Till seine Campingausrüstung vom Boden holen mußte.

Als  Till am späten Vormittag aufwachte, sein Bett leer fand und im Schlafanzug die Villa durchstreifte, war Margit dabei, auch noch den allerletzten Kredit zu verspielen. Sie hatte sich sogar selbst angeboten, den Sonnabend-Gulasch zuzubereiten, und sogar der Großvater war inzwischen in der Küche gewesen.

“Die Wirtschaft leiten, das können Lenins Köchinnen noch nicht”, sagte Adolf Ackermann schadenfroh. Er hielt Till eine kühlschrankkalte Bierflasche entgegen. “Aber das Kochen haben sie schon  verlernt. Was eigentlich gegen den Kommunismus spricht, will Brecht wissen, und das scheint mir denn die Antwort: die Arroganz der Kommunisten. Habe ich Recht, Philosoph?”

“Um Kopf und Kragen wirst du uns noch reden”,  flüsterte Tills Mutter und neigte den Kopf in Richtung Salon-Tür,  Diele und  Küche.

“Also wir essen ja im Rat der Stadt”, wandte Vetter Hartmut zaghaft ein, “und zieht man ab, natürlich, daß das Großküchen-Fraß ist, schmeckt es mir da ganz gut.”

“Aber Opa hat doch nur Lenin zitiert, fast wörtlich”, sagte Till, und Lenin war ja ein Stichwort für revolutionäre List. “Im übrigen kocht Margit sehr gut kubanisch. Gott, sie wird doch nicht etwa...”

Natürlich kochte Margit deutsch und genauso,  wie es alle von ihr erwarteten. Sie war über Till im Schlafanzug wütend, und sie schimpfte ihn zuerst einen Penner und später einen Oportunisten, Ödipus und Nationalisten. Trotzdem gehorchte sie ihm. Sie vermischte die schon angehangenen Erbsen mit dem bis zur Engerlingsgröße aufgequollenen Reis,  dickte das Gulasch mit Semmelmehl an, würzte  mit zwei Eßlöffel scharfem Paprika und übergoß alles mit reichlich Rum. Dann ging Till sich umziehen, und ohne die Wimpern zu zucken aßen Till und Margit ihre Portionen als Fidel  Castros Lieblingsessen vor.

“Castro also”, sagte der Großvater. Er studierte das Paar, kostete ein zweites Mal und nickte der Familie auffordernd zu. “Klar hatten sie in den Bergen keine beschichteten Töpfe. Sie mußten  aus Nichts etwas machen und so kochen, daß keiner zuviel aß. Revolutionsnostalgie... Also los, Jugendfreunde und Genossen! Oder sollen euch die Ausbeuter auch noch den proletarischen Internationalismus vormachen?”

“Ich und ein Kapitalisten-Enkel”, sagte Margit, als sie und Till wieder vor der Leipziger Mensa standen und überlegten,  ob sie ihre Adressen tauschen sollten.

“Ich und die Raubkopie von Rosa Luxemburg”, echote Till.

Das Letzte; Pharao;
Am Anfang; Vögelchen;
Nackt; Indianer;
Stalin; Kapitalisten;
Pinguinhahn; Chefarzt;
Hartmutchen; Persien;
Commune; Geil;
Knutschen; Kapital;
Kamel; Frühling;
Iljitsch; Weiß;
Philo; Sie Idiot;
Magenkrebs; Nele;
Königin; Grieche;
Elefant; Robin Hood;
Woman; Mordsleute;
Bulgarien; Marx;
Döbeln; Witwen;
Leopard; Senf;
Jesus; Thyl;
Hunde; Lamme;
Autsch; Platon;
Flußpferd; Saudis;
Tauben; "Arche";
Huacsar; Ratte;
Sihetekela; Lesbe;
Steaks; Giordano;
Linke; Das Recht;
Miststück; Sartre;
Genosse; Libre;
Nebuk...; Chesus;
Lennon; Dr. Schwarz;
Towarisch; Afrika;