Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, und die Decke lag ihr schwer auf der Brust, aber am Bauch fror Nele. Es war weniger die frühe Stunde, in der der Mann aufgestanden war. Es war mehr die  Art, wie er aus dem Zimmer schlich, zurückkam und sich an zog. Er wollte sie verlassen, routiniert und zivilisiert. Sie sollte ihn  kein zweites Mal für die fast knielangen Unterhosen und die Sokkenhalter auslachen können, und die Futterseide des Jacketts raschelte schon, bevor Nele die Augenlider oben hatte.

 “Schatz, daß ich gegen die Rassendiskriminierung bin, als Marxist, und für die Gleichberechtigung der Frau, heißt noch nicht, daß ich mir den Frühstüks-Tee selbst kochen will!”

Nele gähnte und räkelte sich, ließ aber nur ihre linke Brust in das von den vornehmen Gardinen gesiebte Licht. “Es ist zwar  Sommer”, widersprach sie, “aber das ist ein russisches Bett, und  in Rußland ist es immer kalt. Und ich wüßte bei der Panthermuschel und bei Karl Marx nicht, was über einen außerordentlichen Fick geht!”     

“Die Revolution, Kleines”, sagte der Mann nachsichtig, “und  sogar ein Parteitag. Nicht jeder Parteitag, aber dieser schon.” Der Mann schlenderte zum Bett, setzte sich auf die Kante der  weichen Matratze und wurde steif.

Er reckte den Oberkörper und  den Hals, als sei auf den Spuren der drei Freunde auch ein CNN-Team in die Vergangenheit gereist, und sofort sah der Mann wie der oft fotografierte Trotzki aus. Seine Stirn war glatter und runder als auf den Macht-Fotos. Sein Kneifer erinnerte noch an eine John-Lennon-Brille und die Haare waren noch dunkel und kraus wie die nächsten drei Jahre der Revolution, aber Neles Leo, Löwe und Simba war Trotzki schon nicht mehr.

Er griff den Spitzen-Morgenmantel von der Bettlehne und warf ihn über Nele, wie er die Matrosenmäntel über die toten Matrosen von Kronstadt werfen würde: noch nachdenklich, aber schon entschlossen, den gewählten Weg bis ans Ende zu gehen.

“Und? Bekomme ich nun meinen Tee?”

“Du, ein Sex-Tag ist bestimmt besser als dieser blöde sechste Parteitag”, nörgelte Nele. Sie stand auf, um mit dem ganzen Körper für ihre Sache zu werben. Sie im entliehenen oder enteigneten Neglige einer Gräfin war nicht wenig Revolution, fand Nele, und im an europäischen Spaß armen Petrograd waren ihr dreistellige Dollar-Summen für diesen Auftritt geboten worden. “Ich habe bestimmt nichts gegen Lenin”, nahm Nele das Droschken-Thema noch einmal auf. “Bring ihn zum Tee mit, okay? Zum Skat oder für ‘nen flotten Dreier... Aber verbünden mußt du doch nicht gleich mit ihm, Leo!”

“Gegeneinander, nebeneinander... So kommen wir nie an die Macht, Kleines!” Trotzki zupfte die Spitzen vor Neles Brüsten übereinander, schob die Hand höher und drückte mit Daumen und Zeigefinger Neles Kinn. “Und wir sollten beide nur machen, was wir am besten können, Schatz! Ich die Revolution, du deine Sex-Spiele, okay?”

“Ach, du arroganter Engel, blutrünstiger!” Nele stieß die Füße in die fremden Samt-Pantoffeln und schlurfte zum antiken Schmink-Stuhl, auf dem die Jeans, das T-Shirt und die Lederjacke lagen. In der Jackentasche hatte sie die KARO-Schachtel und das Feuerzeug. Neles Hand zitterte, als sie die vorletzte Zigarette anrauchte. “Wenn die Historiker meine Titten und die Möse untersuchen könnten, sähen sie das anders, wetten? Aber karascho: du sollst dein Schlabberwasser haben! Falls ich die Küche finde...”

Nele durchwanderte ein Bad, ein zweites Schlafzimmer und ein halbes Dutzend Museumsräume, für die sie keine Verwendung gehabt hätte. Die hohen Genossen würden sich diese Unterkünfte zuerst mit den Notwendigkeiten der Illegalität, später mit den Pflichten der internationalen Repräsentation und am Ende mit ihren verdienstvollen, zu langen Leben erklären, fiel ihr ein. Andererseits fand Nele es schade, daß die Samtvorhänge im Herbst Kampfbanner sein würden, und fünfundzwanzig Jahre später würden die verhungernden Familien das Pracht-Parkett verheizen, um während der deutschen Blockade nicht zu erfrieren. Dabei hatte alles so gut begonnen. Nele hatte einen Strip-Job im erstbesten besten Restaurant gefunden, und an ihrem ersten freien Abend hatte sie von der erstbesten Petrograderin erfahren, wo Trotzki reden würde. Wie seine hundert Zuhörer war Nele sofort besinnungslos in ihn verliebt gewesen, und schwarz und exotisch gekleidet war sie ihm sofort aufgefallen.

Trotzki hatte ihr seinen bärtigen Leibwächter geschickt, um sie zum Tee einzuladen, und in der Droschke hatte Nele ihn mit den paar Bröckchen Fachschul-Wissen, die sie sie über die Wende und das Perestroika-Ende hinaus behalten hatte, fasziniert. 

“Es ist meine Schuld”, flüsterte das Dienstmädchen. “Obwohl der Gasdruck seit der Revolution... Und ich habe Ihr Läuten wirklich nicht gehört, Madame!”

Sie flitzte wie ein weißes Äffchen durch die Küche, stellte Silbergeschirr auf ein Silbertablett, Teegläser, Konfitüre-Gläser und eine Schale mit Gebäck, und sah echt unglücklich aus.

Nele holte tief Luft. Thyl hatte ganz entschieden nicht recht. Der Welt, die eine ältliche und nicht unsympathische Frau derart zum Affen und zum Teeroboter machte, gehörte sehr wohl der Jahrhundertschreck dieser Revolution eingejagt. Wie das Unternehmen ausging, mußte eine andere Frage bleiben, und wenn auch Thyl und Lamme nicht mehr ausrichten konnten als sie, mußte Nele in irgendeiner fernen Zukunft noch einmal damit anfangen.

Nele begegnete Trotzki in einem der unnötigen Zimmer, und er ließ sie mit dem Tablett stehen, nahm nur das Teeglas herunter und faßte mit der freien Hand in Neles Spitzen-Morgenmantel.

“Schade, daß ich so revolutionär verheiratet bin, kleine Hexe! Wir hätten nur eine Zukunft, wenn wir die Sklaverei wieder einführen würden, nicht? Was meinst du dazu?”

“Soviel anderes wird nicht herauskommen”, witzelte auch Nele. “Bitte! Wenn er dich wirklich ins ZK will, dann soll Lenin wenigstens Stalin fallen lassen!”

“Du nimmst den häßlichen kleinen Räuberhauptmann viel zu wichtig”, sagte Trotzki mißgelaunt und stellte das Teeglas ab. Er zupfte den Morgenmantel zurecht und rückte am Kneifer und an der Krawatte. “Ein paar Dollar und ein Pfund Rubel müßten im untersten Nachttischschub liegen, falls du Einkäufe machen willst... Wartest du, heute nacht?”

Nele zuckte die Schultern, und als Trotzki sich an der Zimmertür noch einmal umdrehte, winkte sie ihm mit den Fingerspitzen. Sie war mit Thyl und Lamme in einem Café am Newski-Prospekt verabredet, schräg gegenüber dem Kaufhaus, und wenn alles geklappt  hatte, würde Trotzki eine nicht unangenehme Erinnerung bleiben. Lamme hatte ein Attentat auf Stalin vorgehabt, und die Roten Garden würden ihm auf den Fersen sein.

Der türstehende Kellner ersparte sich die üblichen Diskussionen über Neles Out fit, und Nele verstand ihn, als er ihr zu einem der Fenstertische voranging. Thyl war bereits da, im Jeans-Anzug, und er war mit einem großen Skinhead mit gelbem Lätzchen bei der dritten Kanne Kaffee und der Mitte einer großen Flasche Wodka.

“Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn”, brüllte der Skinhead, “mußt bald den letzten Seufzer tun!”   

Umso förmlicher stand Thyl auf, rückte den Stuhl für Nele vom Tisch ab und wedelte vorstellend mit der Hand. “Meine Frau Nele! Mein Freund Majakowski!” 

“Die ganze Szene spricht von dir”, begrüßte Majakowski Nele. “Diese Art Ausziehtanz kommt aus Amerika, ja? Gut, sehr gut! Das werden wir in jedem Café einführen, nach unserer Revolution!”

“Trotzki gefällt es auch”, meldete Nele Thyl. “Leider nur fast so gut wie der Parteitag...”

“Macht nichts”, sagte Thyl und goß Nele Wodka in eine MokkaTasse. “Ich war beim Heuwenden, in Rasliw draußen. Und ich habe  einen Job in Aussicht, Stalins Job.”

Nele starrte Thyl an. “Du willst...?”

“Chefredakter der ‘Prawda’, ja”, sagte Thyl stolz. “Wir werden  ein bißchen bleiben müssen, ein, zwei Jahre...”

“Ihr kommt wirklich aus der Zukunft”, brüllte Majakowski. “Da wollte ich schon immer ein Stück drüber schreiben, was da alles passiert, bei diesem Zusammenprall!”

“Glaube ich dir”, wiegelte Thyl ab. “Wirst du, das wirst du!” Er erzählte flüsternd, daß er Lenin ohne größere Schwierigkeiten überzeugt hätte, die Revolution behutsamer anzugehen. Die Idee, keine Allein-Regierung der Bolschewiki anzustreben, habe erst er ihm eingeredet, und sie hätten Argumente dafür ausgetauscht, im ungünstigsten Fall einen Separatfrieden mit Deutschland abzuschließen. Was die Aussichten auf eine Weltrevolution anging, sei Lenin zwar wie bekannt überoptimistisch gewesen, aber er habe bereitwillig der Abservierung Stalins zugestimmt. “Swerdlow kann ihn ja auch nicht leiden, das wußte er. Und als Ordsho­nikidse vorbeikam, hat er mir zugeben müssen, daß er Stalin nur aus Lokalpatriotismus unterstützt. Allerdings...”

Der Kellner führte Lamme an den Tisch, dessen C&A-Mantel die  einem sowjetischen Offizier abgekaufte Kalaschnikow nur halb verbarg. So selig wie Lamme aussah, so ruhig wie er atmete, konnte er von keinem Attentat kommen.

“Das ist eine Zeit”, seufzte Lamme und sah den Kellner mit großen Augen an. “Eine Portion Austern, Bürger! Oh, Leute! Ich komme gerade von Sascha, ich meine: von der Genossin Kollontai...  Alexandra... Ist das ein Weib!”

“Und Stalin”, fragte Thyl erschrocken.

“Da denkt sie wie wir! So gut das jetzt schon geht...”

“Er lebt also noch”, flüsterte Nele.

“Und, was das Neueste ist, er ist verliebt! Er, versteht ihr, und eine Fünfzehnjährige! Und Sascha schwört auch drauf: guter Sex, und der Kerl wird kein Massenmörder werden!”

“So gesehen”, gab sich Nele versöhnlich.

“Allerdings, wollte ich sagen, klappt es nur, wenn sie Stalin auf dem Parteitag nicht wählen, nicht wählen können. Lamme, seine Freundin heißt nicht zufällig Nadeshda, Nadeshda Allilujewa?” 

“Woher weißt du das”, fragte Lamme und wurde bleich. “Du liebe Scheiße!” 

“Von was für einem Stahlhelm quatscht ihr die ganze Zeit”, murrte Majakowski. “Wir machen Revolution und dann gleich Frieden, verdammt!” Er goß Wodka nach, für alle, trank schnell sein Quantum und füllte sein Glas nach. 

“Das ist sie”, sagte Thyl finster. “Nadeshda Allilujewa... In fünfzehn Jahren wird sie Selbstmord begehen, weil sie es eben nicht verhindern konnte! Und danach wird er restlos zu Vieh!”   

Der Kellner brachte die Austern, und Lamme hielt es nur drei Minuten aus, sie anzustarren und bedrückt aus­zu­sehen. Dann begann er, sie zu schlürfen, und er schob die Schüssel so, daß auch Majakowski zulangen konnte.

“Trink Austern, Dichter, friß Haselhuhn”, sagte Thyl resigniert. “Daß ich ihn Auge in Auge schaffe, auf dem Parteitag, halte ich für ausgeschlossen. Sie werden mich schon der Jeans wegen nicht wählen. Du weißt, was das noch in den 60ern für Theater gab, deswegen!”

“Und Trotzki hält ihn für einen häßlichen kleinen Räuberhauptmann, der ihm nie gefährlich wird”, stöhnte Nele. “Wir haben es vermasselt, richtig?”  

“Aber die drei Tage mit Sascha vergesse ich nie”, sagte Lamme und schlürfte das nächste Schalentier. “Zumindest umsonst waren wir nicht hier!”

“Und ich wüßte bei der Panthermuschel und bei Karl Marx nicht, was über einen außerordentlichen Fick geht”, zitierte Nele sich und langte in die Glasschüssel. “Verzeih mir, Ururur-Großmutter!”

“Ich muß zur Lesung”, sagte Majakowsi und stand auf. Schwankend suchte er sich den Weg zwischen den Stühlen der bourgeoisen Gäste, und wenn die Angerempelten protestierten, hielt er ihnen die Faust mit dem gereckten Mittelfinger vor die Gesichter. An der Tür blieb er stehen, pumpte sich auf und brüllte: “Schnauze, ihr Redner! Jetzt hat das Wort: unser Genosse Mauser! Genug vom Ducken seit Adams Bums! Gaul Geschichte, du hinkst!”

Klirrend  krachte die Tür hinter ihm zu, und als er am Fenster vorbeiging, winkte Majakowski den drei Freunden noch einmal kurz zu.

“Geben wir dir den Gnadenschuß”, reimte Thyl weiter. “Links! Links! Links!” Er trank hastig zwei Gläschen Wodka. “Wir könnten sie auch noch an die Regierung verpfeifen, Lenin vor allem. Aber ich denke, wir lehnen diesen Vorschlag einstimmig ab.” 

“Gehen wir lieber ein bißchen an der Newa spazieren”, schlug Nele vor.

“Und holt mich morgen früh ab, bei Sascha”, bat Lamme. “Darauf kommt es nun auch nicht mehr an, nicht?”

Das Letzte; Pharao;
Am Anfang; Vögelchen;
Nackt; Indianer;
Stalin; Kapitalisten;
Pinguinhahn; Chefarzt;
Hartmutchen; Persien;
Commune; Geil;
Knutschen; Kapital;
Kamel; Frühling;
Iljitsch; Weiß;
Philo; Sie Idiot;
Magenkrebs; Nele;
Königin; Grieche;
Elefant; Robin Hood;
Woman; Mordsleute;
Bulgarien; Marx;
Döbeln; Witwen;
Leopard; Senf;
Jesus; Thyl;
Hunde; Lamme;
Autsch; Platon;
Flußpferd; Saudis;
Tauben; "Arche";
Huacsar; Ratte;
Sihetekela; Lesbe;
Steaks; Giordano;
Linke; Das Recht;
Miststück; Sartre;
Genosse; Libre;
Nebuk...; Chesus;
Lennon; Dr. Schwarz;
Towarisch; Afrika;